Tagungen

Unsere Tagungen

Mit unseren Tagungen leisten wir einen Beitrag zur kollegialen und professionellen Fehlerkultur. Wir bieten damit ein offenes Forum für Austausch und Diskussion zum Thema „Grenzverletzungen in psychotherapeutischen Behandlungen“.

Bericht über den 3. Workshop für Vertrauensleute, Ethikbeauftragte und KollegInnen in Leitungsfunktionen am 22.6.2024 in Hannover (online)

Im Workshop wurden die unterschiedlichen Perspektiven von Betroffenen und Tätern einer näheren Betrachtung unterzogen. Frau Schleu führt in das Thema ein. Psychische Störungen und so Behandlungsbedürftigkeit haben in den zurückliegenden Jahren zugenommen (Thom et al., DÄB, 2024), insbesondere Posttraumatische Belastungs- (+116%) und Angststörungen (+30%) sowie Störungen durch psychotrope Substanzen (+35%) und Depressionen (+14%).

PatientInnen werden jedoch abgeschreckt durch bekanntwerdende Grenzverletzungen. Ein Ratsuchender mit einer depressiven Störung erfährt über einer Freundin, dass in der Tagesklinik, an die er sich nach längerer erfolgloser Suche eines Behandlungsplatzes bei niedergelassenen PsychotherapeutInnen gewendet hat, ein Therapeut eine sexuelle Beziehung zur Freundin seiner Freundin gehabt hat. Er verzichtet auf das angebotene Erstgespräch. An einem solchen Ort will er keine Behandlung wahrnehmen.

Auch die Tatsache, dass Grenzverletzungen kaum je eine rechtliche Begrenzung finden und nur selten Konsequenzen für die beschuldigten TherapeutInnen haben, irritiert PatientInnen und behindert die Entwicklung einer vertrauensvollen Behandlungsbeziehung. In den Jahren 2019 bis 2021 gab es nur 3 Verfahren zum §174c, Abs. 2 StGB, davon 2 mit einer Verurteilung und eines ohne Verurteilung. Angesichts von mehr als 1.000 Fällen von sexuellem Missbrauch/Jahr in Deutschland ist dies ein verschwindend geringer Anteil. Zudem sind rechtliche Verfahren für Betroffene selten hilfreich. Ein anderer Ratsuchender schreibt, dass ihn der Gedanke quäle, dass alles für seinen Therapeuten keine allzu großen Konsequenzen habe werde, während er mit dem Schaden allein bleiben würde. Umso entscheidender ist die Prävention, indem frühzeitig die Muster und Mechanismen von TäterInnen und die Aura von Unangreifbarkeit, die aggressive externalisierende Abwehr erkannt werden und durch Dritte eingegriffen werden kann. Es sind jedoch nicht nur PatientInnen betroffen, sondern auch KandidatInnen, die sich im Rahmen der Aus- und Weiterbildung mit ihren idealisierten Vorbildern identifizieren. Es geht für Sie auch um die Aufnahme in die psychotherapeutische Institution und Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist idealisiert und im Selbsterfahrungsprozess besteht, ebenso wie in der Patientenbehandlung ein erhebliches strukturelles Machtgefälle auf psychischer und auch beruflicher Ebene mit Einordnung in die idealisierte Profession. In diesem Zug werden die sozialen Strukturen der psychotherapeutischen Institutionen inkorporiert. Und dazu gehören Tabuisierung, Spaltung und andere Abwehrmanöver: die Gruppe gegen den einzelnen Betroffenen, lähmendes Schweigen versus ohnmächtige Wut, Anklage versus Bagatellisierung, Infragestellung und Beschämung versus lärmende Verteidigung, Funktionsfähigkeit versus Hilflosigkeit. Es resultiert eine kollusive Verleugnung, der Täter schweigt, um sich zu schützen, der Betroffene aus Scham- und Schuldgefühlen und die Institution zum Zweck des Selbsterhalts. Die Identifikation mit dieser Dynamik der Verleugnung führt zur transgenerationalen Weitergabe von Grenzverletzungen in der Profession. Die vermeintlich selbstschützende Abwehr wird jedoch zum Bumerang. Die Institutionen, die in der Verleugnung verharren, gehen oft zu Grunde. So ist es notwendig, Betroffene zu ZeugInnen zu machen, Täter zu sanktionieren und einen offenen Diskurs zu Fehlern gemeinsam mit Betroffenen zu initiieren.

Frau Daues berichtete über Erfahrungen in der Selbsterfahrung. Sie resümiert, dass Grenzverletzungen – entgegen aller rationalen Einsicht – ein starkes Bedürfnis nach Selbstschutz, Kontrolle, Scham- und Schuldgefühle bei dem Betroffenen bedingen. Aus Sicht von Betroffenen beobachtet sie, dass ihr Zweifel an der Glaubwürdigkeit entgegengebracht werden und/oder ihr die Verantwortung für das Geschehen und das Verbleiben in der therapeutischen Beziehung zugewiesen werden. Eben jene Zuschreibung von Verantwortung und Schuld durch die eigentlich verantwortliche TherapeutIn sind so lähmend und halten die Abhängigkeit des Betroffenen aufrecht, gefangen zwischen Angst, Wut und Sorge um die Therapeutin und die gemeinsame therapeutische Arbeit. Das kollusive Ausbleiben einer gemeinsamen Auseinandersetzung und damit Mentalisierung der Grenzverletzungen lässt verstummen und schreibt die Situation fort. Die prekäre Mischung aus Sonderbehandlung und Beschämung und die idealisierte Vorstellung eines guten Endes, um sich nicht ein desaströses Scheitern eingestehen zu müssen, bilden den zweiten Ring der alptraumartigen Abhängigkeit. Das Erwachen aus dem Alptraum bedurfte einer externen Beratung, die ein Mediationsverfahren vorschlug, das die Therapeutin jedoch strikt ablehnte. Daraus folgend forderte sie als Betroffene die Behandlungsdokumentation an, was zunächst verzögert wurde und anschließend durch einen Anwalt geschah. Aufgrund der Diskrepanzen zwischen eigenem Erleben und den Aufzeichnungen der Analytikerin kam dann die Entscheidung zustande, Beschwerde bei der Ethikkommission einzureichen. Weitere Verzögerungen, Pathologisierungen und Unwahrheiten durch die Therapeutin charakterisierten das Beschwerdeverfahren. Die Belastungen des Verfahrens vor allem mit der Unkontrollierbarkeit der Weitergabe sehr persönlicher Daten wurden rückblickend als notwendig empfunden, um sich von den malignen Identifikationen und Introjekten aus der Selbsterfahrung lösen zu können und eine gewachsene Sensibiltät für die therapeutische Arbeit und den Umgang mit Irrtümern und Fehlern gewinnen zu können. In der anschließenden Diskussion zeigte sich das oft zu beobachtende Phänomen, dass das Interesse sich zuallererst auf die Beschuldigte richtete und die anwesende Betroffene erst nach neuerlicher Intervention die Aufmerksamkeit der Zuhörer gewinnen konnte.

Die Perspektiven von Tätern wurde eingehend von Stefan Postpischil dargestellt. Sexualstraftaten stellen 1,3% aller Straftaten dar, das durchschnittliche Alter der Täter liegt bei 28J. Kennzeichnend ist die höchste Rückfallwahrscheinlichkeit und eine Suchtdynamik bei den Tätern. Das Strafmaß bei §174c StGB, das gesetzlich bei 6 Mon bis 5 J liegt, wird dagegen in der Realität kaum je ausgeschöpft. Psychotherapieauflagen reduzieren das Rückfallrisiko, die Nachsorge gestalte sich jedoch extrem schwierig und sei wie eine „erzwungene Beichte“ (Lamott), wenn im Gefängnis eine Psychotherapie gemacht werde. Erleichternd sei für den Täter, dass das Gefängnis auch Halt biete wie ein Vaterersatz, schwierig dagegen, dass die Therapie dort ein doppeltes Mandat habe mit Sanktion einerseits und Hilfestellung andererseits. Zumeist erfolge nur eine Anpassungsleistung und Unterwerfung. Sexualität diene in Missbrauchssituation immer der Abwehr von Intimität, denn es sei für den Täter eigentlich nicht erträglich, was er/sie sich so sehnlich wünsche. So seien aktuell ca. 40% der Internetbesuch in den USA Clicks auf Sexualseiten. Die Tätergruppe zeichne sich vor allem durch manipulative Techniken aus, so dass eindeutige Grenzsetzungen in der Behandlung erforderlich seien bei gleichzeitig fortbestehendem Beziehungsangebot: „So nicht, aber gerne anders“. Nur so entwickele sich bei Tätern eine Motivation und echtes Leiden mit Verantwortungsübernahme. Damit können spürbar werden, dass angetan wurde, was dem Täter zu einem früheren Zeitpunkt selbst angetan worden ist in der eigenen Biografie. Auf Seiten des Therapeuten sei eine eindeutige Positionierung und absolute Transparenz erforderlich, um psychotherapeutisches Handeln und Beurteilungsfunktion zugleich zu ermöglichen. Eindeutigkeit bringe Entlastung und Verantwortlichkeit. Die Sanktionierung von Ärzten und Psychotherapeuten erscheine vergleichsweise geringer ausgeprägt als für andere (Gesundheits-)Berufe. (as)

Die Jahrestagung 2022 fand am 8. Oktober in München statt zum Thema  „Machtmissbrauch in der Psychotherapie – Verbreitung und institutionelle Prozesse“ Die institutionellen Prozesse im Zusammenhang von Machtmissbrauch wurden in den Beiträgen von Pater Klaus Mertes über die Aufarbeitungsprozesse in kirchlichen Kontexten und durch die Aufarbeitung im AKJP Heidelberg nach den jahrelangen, multiplen Abstinenzverletzungen und Fällen von sexuellem Missbrauch (Dill, Caspri) dargestellt und später in Kleingruppen diskutiert. Die Parallelen in den institutionellen Abwehrdynamiken in beiden Kontexten wurden augenfällig. Insbesondere die Verleugnung, Bagatellisierung, Nicht-Wahrnehmung von Betroffenen und die potentielle Wiederholung des Missbrauchs von Betroffenen in Aufarbeitungsprozessen wurden eingehend dargestellt und diskutiert. Prof. Bernhard Strauß stellte anschließend die Ergebnisse der Repräsentativerhebung bei Psychotherapie-erfahrenen Patient*innen dar. Es zeigt sich, dass neben den anteilig in geringem Maße auftretenden gravierenden Abstinenzverletzungen (1-2%) deutlich häufiger andere Nebenwirkungen und Störungen der psychotherapeutischen Behandlungsbeziehung von Patienten berichtet werden, die weitere Bemühungen um eine Verbesserung der psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten erfordern. (Flyer PDF)

Am 9. Oktober 2021 fand in Frankfurt die Jahrestagung unter dem Thema „Aus Beschwerden lernen – eine Fehlerkultur entwickeln“ statt. Erstmals konnte in diesem Rahmen Frau Klassmann als eine betroffene Patientin über ihre verletzenden Erfahrungen unter dem Titel „Ein Angriff auf den ganzen Menschen“ berichten und die aus ihrer Perspektive notwendigen Konsequenzen aufzeigen. Die aktuellen Entwicklungen in den Beratungen des Ethikvereins und erste Daten der vom Ethikverein angestoßenen Repräsentativerhebung in Kooperation mit Prof. Bernhard Strauß, Jena zu Grenzverletzungen in der Psychotherapie wurden von Andrea Schleu referiert. Neben einer eingehenden Diskussion wurde die Auseinandersetzung mit der Thematik durch affektives Lernen in einem Großgruppenrollenspiel weiterentwickelt.

Am 7. November 2020 fand die Tagung zur Thematik: „Institutioneller Umgang mit Grenzverletzungen. Aufarbeitung und Prävention“ als Online-Konferenz statt. Mit den Referenten Prof. Jens Brachmann, Rostock und Dr. Werner Tschan aus der Schweiz wurden die institutionellen Charakteristika beleuchtet, die für die Betroffenen oftmals einem Kampf gegen Windmühlen gleichen. Patient*innen begegnen bei Beschwerdeversuchen undurchdringlichem Schweigen und Unglauben, Bagatellisieren und Verleugnung, Desinformation und Entmutigung, Vertuschung und Schuldzuweisungen, Einschüchterung, Beschämung und Nicht-Reaktion. Sie begegnen der Verteidigungslinie und dem Selbsterhaltungstrieb der angefragten Institution. Dabei zählt die Glaubwürdigkeit der Institution scheinbar viel mehr als die der Patient*in. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Missbrauchsvorfälle im pädagogischen Bereich, hier insbesondere an der Odenwaldschule, führte zu der Frage, welche Ansätze für den Bereich der Psychotherapie hilfreich sein könnten. Diese Frage wurde mit dem Referat mit Werner Tschan sowie in Breakout-Sessions vertieft nachgegangen (Flyer PDF).

Am 3. November 2018 fand in Frankfurt unter dem Titel: „Wege aus Grenzverletzungen – Informations- und Erfahrungsaustausch für Vertrauensleute und Mitglieder von Ethik- und Schiedskommissionen“ (PDF) die 3. Tagung des Ethikvereins statt. In einem offenen Diskurs wurden die unterschiedlichen Perspektiven von Opfern, Beschuldigten, Ausbildungskandidaten, Instituten, Verbänden und Vertrauenspersonen, Schiedskommissionen und Bystandern tiefer ausgeleuchtet. Mit einem interaktiven Tagungskonzept wurden neue Möglichkeiten zum Umgang mit Grenzverletzungen entwickelt.

Die Ergebnisse der Tagung werden von den Teilnehmern als auch im Ethikverein weiter diskutiert und im kommenden Jahr veröffentlicht.

Die Konzeption der Tagung wurde freundlicherweise von „initio“ (www.organisationsberatung.net) begleitet.
Die Tagung anlässlich des 15-jährigen Bestehens des Ethikvereins fand am 14. September 2019 in Berlin in der International Psychoanalytic University Berlin statt unter dem Thema „Patientenbeschwerden – was  wir aus ihnen lernen können“ statt. Die Referate von Prof. Yvonne Nestoriuc, Dr. Thomas Charlier, Detlev Achhammer, Richter a.D., Prof. Bernhard Strauss, Prof. Eckhard Frick, Dr. Dietrich Munz und Dr. Andrea Schleu zur Fehlerkultur, Risiken und Nebenwirkungen, Patientenaufklärung, Beratungsarbeit, juristischen Folgen, Verstrickungen in Behandlungen und dem Missbrauch von Vertrauen in Behandlungen wurden unter der Moderation von Dr. Jürgen Thorwart mit dem Publikum in offener kollegialer Atmosphäre diskutiert (PDF).
Veröffentlichung im Deutschen Ärzteblatt (PDF).

Unter dem Titel Jenseits von Sprachlosigkeit, Verurteilung und Ausstoßung“ (PDF) haben wir die Dynamik zwischen Opfern und Tätern und ihrer Umwelt mit Vorträgen von Frau Vera Kattermann und Diana Pflichthofer am 11. November 2017 in Frankfurt näher ausgeleuchtet.

Presseerklärung und Veröffentlichungen zu diesem Thema:

Lesen Sie hier die Presseerklärung.

Veröffentlichung in: Deutsches Ärtzeblatt (02/2018)

Veröffentlichung in: Deutsches Ärtzeblatt (01/2018)

Die Tagung Was können wir aus Fehlern und Grenzverletzungen in der Psychotherapie lernen?“ (PDF) fand am 8. November 2014 in München statt und beschäftigte sich mit Folgetherapie, dem Umgang mit Machtmissbrauch in Institutionen und Grenzverletzungen in Aus- und Weiterbildung.

Presseerklärung und Veröffentlichungen zu diesem Thema:

Lesen Sie hier die Presseerklärung.

Veröffentlichung in: Deutsches Ärtzeblatt (01/2015) (1)

Veröffentlichung in: Deutsches Ärtzeblatt (01/2015) (2)

Veröffentlichung in: Bayerisches Ärtzeblatt (02/2015)

Bilder zu den Tagungen

Berichte

Bericht zur Tagung Umgang mit Transsexualität am 11.6.2021 (online) (Flyer PDF)

Dr. sc. hum. Lily Gramatikov, Dipl. Psych., Psychoanalytikerin, Lehranalytikerin (DGPT), Heidelberg

Frau Gramatikov hat als Psychotherapeutin und Gutachterin bisher ca. 100 Personen gesehen und begleitet bei der Frage einer Geschlechtsumwandlung. Es sei wichtig, zwischen Transsexualität und Transgender zu unterscheiden. Transsexualität versteht sie als fundamentales Gefühl und eindeutiges inneres Wissen der Zugehörigkeit zu einem anderen als dem Geburtsgeschlecht; dieses Wissen ist nicht Ergebnis einer Wahl, sondern wird von den Betroffenen als Gewissheit erlebt. Transgender (queer, drag) bezeichnet dagegen eine eher fluide und situationsabhängige Selbstdefinition. Die geplante Abschaffung der einjährigen Alltagserprobung mit psychotherapeutischer Begleitung vor der somatischen Angleichungsbehandlung sieht sie kritisch. Der hohe innere Druck, unter dem die Betroffenen stehen, könne leicht zu einem überstürzten Vollzug der Transition führen.

Dr. phil. Jochen Kramer, Dipl. Psych., Vorstandsmitglied VLSP*-Verband, Stuttgart

Herr Kramer betont den hohen Wert der Autonomie des Subjekts. Der „Alltagstest“ könne eher das Erleben von Psychopathologisierung und den Zwang, in der Psychotherapie etwas beweisen zu müssen, mit sich bringen. Aus seiner Sicht wäre ein Netzwerk von Hilfen nötig, damit jede*r trotz Normierungsdruck in einem breiten Kontinuum die passende Lebensform finden kann. Dies braucht innere Ressourcen, die im Sinne der Selbst-Ermächtigung gestärkt werden sollten.

Dr. phil. Adelheid Staufenberg, KJ-Psychotherapeutin, Leitung des Ausbildungsausschusses am Anna-Freud-Institut, Frankfurt

Frau Staufenberg sieht die Adoleszenz als „zweite Chance“ der Entwicklung. Der sexuelle Körper zwinge zur Anerkennung des „realen Körpers“, frühere Allmachtsphantasien werden konterkariert. Die autonome körperliche Entwicklung werde als narzisstische Kränkung erlebt und könne Auslöser für Entwicklungskrisen sein. Hier sei es besonders wichtig, Lösungen offen zu halten und nicht der Gefahr einer konkretistischen Sichtweise (Sophinette Becker) zu erliegen, indem vorschnell nach somatischen Lösungen der Entwicklungskrise gesucht werde.

Dr. med. Thomas Lempp, Chefarzt des Clementine Kinderhospitals (Kinder – und Jugendpsychiatrie), Frankfurt

Herr Lempp bezieht sich auf die ethischen Grundsätze von Beauchamp & Childress als handlungsleitend – Prinzip der Autonomie, der Fürsorge, der Nicht-Schädigung und der Gleichheit und Gerechtigkeit. Nicht jede Genderdysphorie im Kindesalter führe zu einer transsexuellen Entwicklung im Erwachsenenalter (nur ca. 12-39%). Er plädiert für die „Akzeptanz des Augenblicks“, zusammen mit Offenheit für künftige Entwicklungen. Shared decision making müsse Betroffene, Eltern und Ärzte einbeziehen. Die Alltagserprobung vor geschlechtsangleichenden Eingriffen hält er für unabdingbar.

Prof. Dr. iur. Thomas Gutmann, rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster

Das Grundrecht auf Selbstbestimmung der empfundenen geschlechtlichen Identität und deren Anerkennung ist absolut gesetzt. Die Anerkennung der Personenstandsänderung ist rechtlich niedrigschwellig und setzt keine angleichenden medizinischen Maßnahmen voraus. Sobald sie rechtlich einwilligungsfähig sind, haben auch Kinder und Jugendliche dieses Grundrecht. Die Tendenz geht zunehmend zum alleinigen Bestimmungsrecht des Jugendlichen. Der ärztliche Standard verlangt in diesen komplexen Fällen ein gründliches, individuell abgewogenes Vorgehen mit hoher Ambivalenztoleranz in einem gestuften Prozess. „Zwangs-Psychotherapie“ sei rechtlich sehr fragwürdig.

Dr. med. Alexander Korte, ltd. Oberarzt an der Poliklinik der LMU für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Vor allem bei Mädchen sei seit 2008 ein enormer Anstieg der Prävalenz von „rapid onset gender dsyphoria“ zu beobachten. Herr Korte vermutet hier auch Einflüsse des Zeitgeistes (Unzufriedenheit mit der weiblichen Rolle) und sieht Verbindung zur identitären Bewegung und xenophoben Tendenzen der Gesellschaft als Ausdruck einer „Fetischisierung von Identität“. Langzeitkatamnesen zeigten, dass die Persistenz von Genderdysphorie im Lauf der Adoleszenz gering sei, oft gebe es homosexuelle Entwicklungen. Pubertätsblocker sind nicht evidenzbasiert und haben experimentellen Charakter, der damit verbundene Libidoverlust blockiere die innere Entwicklung. Er plädiert dafür, in der Pubertät keine geschlechtsangleichenden Maßnahmen durchzuführen.

Diskussion:

  1. Wie kann man therapeutisch mit jemand arbeiten, dem es nur um Bescheinigung für medizinische Weiterbehandlung geht? Man sollte versuchen, eine hilfreiche Beziehung zu etablieren, die einen Reflexionsprozess ermöglicht.
  2. gibt es „kritische Zeitpunkte“ bei Beratung und Transition? Ja, Schuleintritt und Pubertätsbeginn
  3. Pubertätsblocker pro und contra: sehr schwierig, Entscheidungen sollten auf der Mikro-Ebene getroffen werden – letztlich profitieren nur dauerhaft transsexuelle Personen, jedoch lässt sich dies nicht sicher vorhersagen.
  4. dissoziative Identitätsstörungen parallel zur transsexuellen Entwicklung? eindeutige Weichenstellungen sollten vermieden werden.
  5. warum nimmt GD besonders bei Mädchen so stark zu? Nachahmphänomene bei früher tabuisierten Themen? GD als neue Form der „Essstörung“ – Mädchen sind in der Pubertät das vulnerablere Geschlecht? Vielleicht positiv- die Menschen trauen sich mehr als früher? Empfundene Einengung durch die weibliche Rolle? Vermehrte Auseinandersetzung mit eigenen homosexuellen Seiten? Eindeutige, abgesicherte Antworten gibt es nicht.
  6. gibt es Zahlen zu „Bereuern“ nach Transition? Gemäß Herr Korte ca. 1 % und vermutlich eine Dunkelziffer, nach Herrn Kramer eine große Bandbreite, kein Entweder-Oder.
  7. welche Erkenntnisse gibt es zu Suizidraten? Dünne Studienlage, auch nach Transition noch erhöhte Suizidraten. Ergebnis selten „ideal“, Trauerarbeit ist nötig, es geht um das Erleben einer verbesserten inneren Kongruenz.